Glaubensausdruck und Raumgestalt
Eine theologisch-liturgische Einführung in den »Communio-Raum«  von Ahrensburg
von Albert Gerhards, Bonn


Kirche als Versammlung
Der Raum für die christliche Liturgie hat viele Gesichter – er ist Ausdruck des Glaubens der Kirche, wie er sich zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten manifestiert. Die Identifikation mit dem Raum geht dabei so weit, dass dasselbe Wort Kirche (griech. ekklesia = Herausrufung, Versammlung) sowohl für die Glaubensgemeinschaft als auch für das Gebäude gebraucht wird. Bereits im Neuen Testament wird die Baumetaphorik in reichem Maße für die Beschreibung der christlichen Gemeinde verwendet. Allerdings spielt hier die Idee des Tempels kaum eine Rolle, vielmehr die des Hauses aus lebendigen Steinen (z.B.1Petr 2,5). Dies kann nicht verwundern, wenn man bedenkt, dass Jesus sich auf der Linie der prophetischen Kulturkritik bewegt. Die Idee des Tempels wird vergeistigt. Der neue Tempel ist nicht ein Gegenüber, sondern die Kirche als Versammlung der Gläubigen selbst bildet den Tempel, in dem der Heilige Geist wohnt (vgl.1Kor 3,16). Grundlagen für dieses Selbstverständnis christlicher Gemeinden sind die Traditionen Israels, aber auch die innovative Kraft des Ostermysteriums. Kirche ereignet sich da, wo Gläubige im Namen Jesu sich versammeln und er in ihrer Mitte gegenwärtig wird. Somit ist die communio (Gemeinschaft) Grundmuster jeglicher christlichen Gemeinde. Diese ist erstaunlich früh strukturiert: Der Bischof mit seinem Presbyterium, umgeben von Diakonen und weiteren Diensten, steht der Gemeindeversammlung vor. Die Eignung für Versammlungen stellt demzufolge die primäre Qualitätsanforderung an das Kirchengebäude dar. Die frühesten Zeugnisse christlichen Kirchenbaus aus dem 3.Jh. (z.B. Dura Europos in der heutigen Türkei) bestätigen diese Einschätzung. Die Zurückhaltung der ersten Jahrhunderte in bezug auf die Erstellung repräsentativer Bauten mag sicher durch die Situation der Märtyrerkirche mitbedingt gewesen sein, die eine Zurschaustellung des Christentums unmöglich machte; letztlich haben aber wohl theologische Gründe den Ausschlag gegeben.
Kirche und Synagoge 
Die Kirche der Frühzeit teilt mit dem Judentum die ambivalente Haltung gegenüber dem Kult. Der Grund: Es handelt sich (wie auch beim Islam) um monotheistische Religionen, die auf das verkündigte Wort bezogen sind. Der im Jahr 70 zerstörte Jerusalemer Tempel war in gewisser Weise nur eine Übergangslösung. Der Salomonische Tempel war nicht die architektonisch angemessene Antwort auf den Monotheismus, sondern Übergangs- und Kompromissform zwischen sinnlichem Götzendienst und Glauben an einen unsichtbaren Gott. An seine Stelle trat die »unsinnliche« Synagoge ohne Priester, wo jeder Betende in unmittelbarer Beziehung zu Gott stand. An die Stelle des Altars trat der erhöhte Ort für den Prediger, anstelle des blutigen Opfers das unblutige Gebet und anstelle der Bundeslade mit den Gesetzestafeln der Toraschrank mit den biblischen Schriftrollen. Anstelle der differenzierten Raumfolge des Tempels gestaltete sich ein konzentrischer Versammlungsraum, um vom Schriftgelehrten Gottes Wort hörbar zu machen. Man versammelte sich um einen Punkt, praktischerweise um einen erhöhten Ort: die erhöhte Kanzel, den Almemor. Neben der eher profan ausgerichteten Belehrung erwuchs im Laufe der Neuordnung der synagogalen Liturgie in der Spätantike jedoch die Notwendigkeit, in der Synagoge auch geregelte sakrale Handlungen mit und neben dem Gebet vorzunehmen. Zu den rationalen Momenten der geistigen Belehrung und des Gottesdienstes traten somit auch sakrale, zusätzliche Forderungen an den Raum hinzu. Dabei wird das Raumprogramm um den heiligen Schrein für die biblischen Schriftrollen, den Aron ha-Kodesch bereichert. Er steht für das (leere) Allerheiligste im früheren Tempel. Die Spannung führt zu Problemen hinsichtlich der Raumdisposition: »Von seiner exponierten Stellung her »fordert« der Almemor eher den Zentralraum, während die Ostwandposition des Aron ha-Kodesch durch ein Langhaus betont werden kann. Dem ideellen Konflikt zwischen Almemor und Aron ha-Kodesch entspricht auf architektonisch-räumlicher Ebene der Konflikt zwischen Zentralität und Longitudinalität. ... Die (äußere) Architektur der Synagoge ist austauschbar – das (innere) bipolare räumliche Prinzip, die »synagogale Raumantinomie«, ist es nicht!« (Salomon Korn).
Christentum: Religion des fleischgewordenen Wortes 
Das Christentum versteht sich als Religion des fleischgewordenen Wortes. Dies kommt in den Sakramenten, vor allem in der Eucharistie, zum Ausdruck. Zeichen der sakramentalen Gegenwart im Kirchenraum wird der Altar (später auch der Tabernakel). Der christliche Altar – den es im religionsgeschichtlichen Sinn als Ort eines eigenständigen Opfers eigentlich gar nicht geben kann – ist weder ein entrückter Opferstein noch einfach ein gewöhnlicher Eßtisch, wenngleich die Tischform in der Theorie immer bestimmend blieb. Er ist die Stätte, an der das Opfer des Lobes dargebracht wird und von der aus die eucharistischen Gaben empfangen werden. Im Weihegebet der Altarweihe heißt es: »Dieser Altar sei die Mitte unseres Lobens und Dankens, bis wir nach dieser Zeit die Freude der ewigen Heimat erlangen. Dort weihen wir dir ohne Ende das Opfer des Lobes auf dem lebendigen Altar, unserem Hohenpriester Jesus Christus ... .« Die christliche Sichtweise führt aber zu einem ähnlich bipolaren Raumkonzept wie bei der Synagoge, das z.B. in den beiden Hauptteilen der Messe Wortgottesdienst und Eucharistie zum Ausdruck kommt. In syrischen und griechischen Kirchen finden sich Beispiele der Bipolarität des Bema (erhöhter Ort) im Kirchenraum und des »Allerheiligsten« mit dem Altar im Osten. In diesem Bild füllen die eucharistischen Gaben (im Kontext der Opferhandlung) die Leere des Heiligtums im Jerusalemer Tempel. Demgegenüber entspricht der zentral (im Langhaus oder Querhaus) aufgestellte Altar in der römischen Tradition (z.B. in St.Peter in Rom) einer anderen Bildsymbolik, der der Tischgemeinschaft. Hier ist das Umstehen (ursprünglich: das Liegen um einen halbkreisförmigen Tisch) die formgebende Symbolgestalt. Im römischen Eucharistiegebet, dem Canon Romanus, ist ausdrücklich von den »Umstehenden« (circumstantes) die Rede. Die Bipolariät des synagogalen Konzepts ist hier aber nicht mehr raumbestimmend. Die Versammlungsgestalten des Lehrhauses und der Eucharistiegemeinschaft sind nicht polar wie die der (gerichteten) Opferhandlung und der (konzentrierten) Lehrsituation. Es handelt sich dabei um Modifikationen des »Gegenübers« der Lehrsituation und des »Miteinanders« der Eucharistie. Die Polarität ergibt sich aus den Handlungsorten inmitten der Gemeindeversammlung. Orte der Wortverkündigung im heutigen Kirchenraum sind Ambo und Priestersitz. Die »Pastorale Einführung in das Messlektionar A« (PEM) sagt zum Ort der Wortverkündigung Folgendes: »Für die Verkündigung des Wortes Gottes muss es im Kirchenraum einen Ort geben, der der Bedeutung des Wortes Gottes angemessen ist und den Gläubigen bewusst machen kann, dass ihnen der Tisch sowohl des Wortes wie des Leibes Christi bereitet wird.« (PEM 32) Die Analogie von Ambo und Altar wird von der PEM noch weiter ausgeführt. So sollte in jeder Kirche »eine Lösung gesucht werden, bei der Ambo und Altar einander entsprechen und in richtiger Beziehung zueinander stehen« (PEM 32). Für die konkrete Gestaltung ergeben sich daraus zahlreiche Fragen, z.B.: Wie kommt die Analogie zum Altar angemessen zum Ausdruck? Ist sie so weit zu führen, dass der Ambo als ein zweiter Altar erscheint? Beim Priestersitz stellt sich hinsichtlich Plazierung und Gestaltung die Frage, ob die repräsentative (Thron) oder die kommunikative Funktion im Vordergrund steht. 
Die Sinngestalt der Kirchenraums in Ahrensburg 
Die Neuordnung des Kirchenraums in Ahrensburg bekennt sich zu einer Gestalt der Versammlung mit Betonung auf der differenzierten Gemeinschaft der Gläubigen, Priester und besonderen liturgischen Diensten (Messdienern bzw. Messdienerinnen, Lektorendienste, Kantor und Chor). Die Gemeinde ist um die freie Mitte in zwei gegenüberliegenden halbkreisförmigen Blöcken gruppiert. Eine solche Anordnung hat in der Kirche Tradition.

Die Gemeinde ist um die freie Mitte in zwei gegenüberliegenen halbkreisförmigen Blöcken gruppiert. Eine solche Anordnung hat in der Kirche Tradition. A. Gerhards
Die Gemeinde ist um die freie Mitte in zwei gegenüberliegenen halbkreisförmigen Blöcken gruppiert. Eine solche Anordnung hat in der Kirche Tradition. A. Gerhards

Vor allem klösterliche Gemeinschaften pflegen sich so zu versammeln (Chorgestühl). Hier wurde schon vor Jahrhunderten ein Kompromiss gefunden zwischen der axialen Ausrichtung des basilikalen Raums mit angefügtem Chor und der Zugewandtheit der Bestuhlung. Altar und Lesepult bilden die Bezugspunkte. Ausrichtung und Konzentrierung waren und sind zwei gleichberechtigte Grundhaltungen in diesem Raumkonzept. Doch handelt es sich bei St.Marien in Ahrensburg nicht nur um einen Versammlungsraum. Vielmehr geht es um ein Raumgefüge mit unterschiedlichen Funktionen. Hier spielen Übergänge, Schwellensituationen, eine Rolle. Auch der Weg zur Kirche und der Vorplatz gehören zum Umfeld des Gottesdienstes. Sie fördern (oder behindern) die Einstimmung in den Gottesdienst. Dies war früher durch den mehr oder weniger langen Kirchgang wie von selbst gegeben. Der von dem Architekten Bruno Braun gestaltete Vorplatz mit seinen Arkaden bildet in Ahrensburg eine Schwellensituation vom »profanen« zum »sakralen« Raum, vom Alltag zum Fest. Beim Überschreiten der Schwelle wird bewußt oder unbewußt der für die Feier der Liturgie notwendige Übergang vollzogen. Schwelle bedeutet also nicht Trennung, sondern Übergang. Die Schwellensituation in St.Marien gleicht dem Glaubensweg der Taufbewerberinnen und -bewerber, dem Hineinwachsen in die Gemeinde durch den Katechumenat. Vom Vorhof (dem »Vorkatechumenat«) gelangt man in den Vorraum (den »Katechumenat«), der die entscheidende Station vor dem Eintritt in die eigentliche Gläubigenversammlung (communio) darstellt. Die Schwelle bildet das Taufsakrament, dessen ständiges Erinnerungszeichen der Taufbrunnen ist. Mit seinem eingemeißelten Labyrinth bildet er in Ahrensburg die oft verworrene Glaubensbiographie der Gemeindemitglieder ab. Durch das Segnen mit dem geweihten Wasser werden die Gläubigen jedesmal beim Eintreten an ihre eigene Taufe erinnert. Wenn bei der Tauffeier die Tür zum Hauptraum geöffnet wird, fällt der Blick zunächst auf Priestersitz und Ambo.

Die neue liturgische Achse: Taufe - Priestersitz - Ambo - Mitte - Altar - Kreuz
Die neue liturgische Achse: Taufe - Priestersitz - Ambo - Mitte - Altar - Kreuz

Der Priestersitz steht für das kirchliche Amt, für die Leitung der Versammlung, der Verkündigung und der sakramentalen Heilssorge. Der Ambo versinnbildlicht das Wort Gottes, dem auch der Leitungsdienst der Kirche untergeordnet ist und das konstitutiv ist für jede sakramentale Handlung. Der innere Bezug von Wort und Sakrament kommt in Ahrensburg dadurch besonders zum Vorschein, dass die kreuzförmige Stele aus dem Kern des Altarblocks geschnitten ist. Mit dem Hauptraum verbunden, dennoch als eigenständiger Ort der Andacht und Stille definiert, ist der Raum für die Aufbewahrung der Eucharistie. Die vom Kirchenraum aus sichtbare Basaltstele markiert die Bedeutung dieses wichtigen Ortes persönlicher Frömmigkeit. Die Sinngestalt des Kirchenraums wird aber primär durch die Anordnung der Gemeinde um die liturgischen Hauptorte erzielt. Durch die polare Anordnung von Ambo und Altar ist ein Raum ausgespart, der zugleich Raum für die liturgischen Handlungen bietet, die keinem Zweck unterliegen. Er symbolisiert den Ort der geheimnisvollen Erscheinung der Gegenwart Jesu Christi im Wort und in den eucharistischen Gaben, in der Versammlung der Gemeinde und ihrem priesterlichen Vorsteher. Das dreiteilige Fenster mit der Kreuzfigur hinter dem Altar öffnet zugleich die Versammlung. Das Licht symbolisiert das Geschenkhafte und Unverfügbare und zugleich das Zukünftige. Die regelmäßige Versammlung zur Feier der Liturgie ist der Kirche aufgetragen, damit der Tod und die Auferstehung des Herrn verkündet wird, »bis er kommt in Herrlichkeit«. Erst dann, wenn die Menschheit heimgeholt sein wird in die Gemeinschaft des dreieinen Gottes, ist die zeichenhafte Communio unserer irdischen Liturgie in der »himmlischen Liturgie« vollendet.