Lichtgedeckter Altar - Illumination Gregor Linßen, 2015
Lichtgedeckter Altar - Illumination Gregor Linßen, 2015

Eine Gemeinde baut Kirche
von Sabine Schaefer-Kehnert, Ahrensburg
 
1998 in Ahrensburg in Schleswig-Holstein: Eine bunte lebendige Diasporagemeinde ist die katholische Kirchengemeinde St.Marien - Hilfe der Christen. Viele junge und ältere Familienkreise prägen das Bild. Es gibt viel soziales Engagement und Aktivität rund um die Kirche, die Anfang der 50er Jahre mit Eigenarbeit der durch Flüchtlinge aus dem Osten Deutschlands stark gewachsenen Gemeinde gebaut wurde. Das quirlige Gemeindeleben mit offener, herzlicher Stimmung ist Nährboden für Neues. So werden manchmal die Bänke umgestellt in der traditionell auf den erhöhten Chorraum hin ausgerichteten Kirche. Ein Altartisch wird in die Mitte gerückt und eine neue Form der Gemeindefeier ausprobiert. Das war die Situation, als im Frühjahr 1998 das Gutachten eines Architektenbüros unangenehme Tatsachen ans Licht brachte: Tragende Balken im Dachstuhl der Kirche machten Probleme, die Kirchenwände wölbten sich nach außen, zeigten Risse, der Fußboden war abgenutzt. Mindestens 1,2 Millionen DM wären nötig für die dringendsten Reparaturen. Die Alternative: wenige Jahre später hätte das Gebäude wegen Einsturzgefahr geschlossen und abgerissen werden müssen. Geld, um zu renovieren, hatte die Gemeinde nicht viel, aber ein Neubau wäre noch teurer geworden. Also machte man sich an die Arbeit. Es lag ein langer Weg vor der Gemeinde – vom alten, längs ausgerichteten Kircheninnenraum hin zur Kirche mit einer neuen liturgischen Mitte, einer auf einer neu eingebrachten Querachse angesiedelten

Ellipse, in deren Brennpunkten Ambo und Altar stehen. 

Ellipse, in deren Brennpunkte Altar und Ambo stehen. S. Schaefer-Kehnert
Ellipse, in deren Brennpunkte Altar und Ambo stehen. S. Schaefer-Kehnert

Ein Weg – auf der Suche nach einem Konzept, in der Diskussion mit der Gemeinde, in Begleitung des Künstlers, im Werben um Unterstützung und im Ringen um Details. Der Umbau kam ins Gespräch. Der Bauausschuss wurde gewählt. Sieben durch Wahl beauftragte Ehrenamtliche und ihr Pfarrer Norbert Bezikofer starteten neugierig auf die vor ihnen liegende Aufgabe: Bei aller Unsicherheit, aller Unerfahrenheit in Sachen Kirchbau war uns schnell klar, dass dort auch eine Chance lag. Wir mussten nur zugreifen, um ein wenig Kirche zu bauen, in jedem Sinn des Wortes; um »frische Luft« des II.Vatikanischen Konzils durch die Fenster hereinzulassen, um unsere eigenen zaghaften Versuche, neue Feierformen durch das Umstellen von Kirchenbänken zu suchen, dauerhaft Tatsache werden zu lassen. Aber damit ging das große Fragen los: Wie wollen wir künftig die Liturgie feiern? Wie vielleicht unsere Kinder? Was will die Gemeinde? Wie kommen wir ins Gespräch? Wer gibt uns Nachhilfe in Sachen Liturgie – Feierformen – Kirchenräumen? Wir waren alle neugierig, gespannt, motiviert – aber von Beruf eben Arzt, Bankkauffrau, Familienmütter, Architekt, Lehrer und Betriebswirt und keine Theologen oder Liturgieprofessoren. So fingen wir einfach an, gingen Schritt für Schritt vor, machten Fehler und lernten daraus. Der eine Weg hieß lernen – wir informierten uns über die Bedeutung der liturgischen Orte in einem Kirchraum, über die Beziehung von Ambo und Altar zueinander, über die verschiedenen Meinungen zum Standort eines Tabernakels. Der zweite Weg hieß Öffentlichkeit schaffen – wir wollten die Menschen der Gemeinde beteiligen. Wir baten die Gemeinde sich ihren Kirchenraum zu erträumen und uns ihre Träume als Skizzen mitzuteilen. Und wir luden Professor Franz-Josef Rahe ein, Dozent für Kirchenmusik und Liturgie in Osnabrück. Er lehrte uns, dass jeder Raum seine Bedeutung hat, und dass jedes Teil seinen eigenen Raum braucht. Er verwies auf die Folgen des II.Vatikanischen Konzils, wonach die Gemeinde Träger der Gottesdienste ist, dass es mehr tätige Mitfeier der Gemeinde an dafür eigens bestimmten Orten gibt. Entscheidende Orte sind dabei: Altar, Ambo und Priestersitz. Franz-Josef Rahe machte uns eines besonders klar: Jede Gemeinde muss für sich herausfinden, wie sie künftig feiern will. Die ersten Architektenentwürfe fassten alle 40 eingereichten Traum-Skizzen zusammen. Wir präsentierten sie der Gemeinde. Herausgekommen war eine kunterbunte Kirche: ein bisschen alte St. Marien-Kirche zum Wiedererkennen, ein bisschen neue Kirche offen für neue Wege. Fazit: ein großes Durcheinander, wenig klare Linie. Die kategorische Entscheidung für das eine und gegen das andere Konzept blieb uns nicht erspart. Und wir brauchten mehr Hintergrund, mehr Bewertung zur Bedeutung der Orte für Ambo und Altar. In dem Buch von Professor Clemens Richter aus Münster »Kirchenträume – Kirchenräume« und in Texten der Zeitschrift »Gottesdienst« begegneten wir immer häufiger Auseinandersetzungen mit unserem Thema: Wie stehen der Tisch des Wortes und der Tisch des Brotes zueinander – wie ist Gemeinschaft im Gottesdienst erfahrbar? Wir lernten über Professor Albert Gerhards das Communio-Modell kennen, ein Modell, das Ambo und Altar einander gegenüberstellt, von Gemeinde umgeben und einer liturgischen Mitte getrennt. Die neuen Zeichnungen bekamen mehr Klarheit, wurden schlichter – bis hin zur Ellipse auf einer neuen Querachse genau mittig im alten Kirchenschiff, symmetrische leicht gebogene Bankreihen einander gegenüber auf beiden Seiten der Ellipse. So schien uns Gemeinschaft erlebbar, jedes liturgische Geschehen an seinem eigenen Platz. Monatelang traf sich unser kleiner Ausschuss, brütete über Plänen und neuen Details, besuchte andere, frisch renovierte und umgebaute Kirchen und organisierte Öffentlichkeitsarbeit über Vorträge zur Liturgie, öffentliche Sitzungen usw. Rückendeckung gab uns dabei ein Beschluss des Kirchenvorstandes, die Kirche so zu gestalten, dass sie eine zeitgemäße Feier der Liturgie zulässt. Eine von einem unabhängigen Moderator geleitete Pfarrversammlung stellte alle bis dahin entwickelte Pläne einander gegenüber. So groß wie die Vielfalt der Menschen in der Gemeinde, so groß war die Vielfalt der Meinungen. Wir mussten lernen, dass nicht allen alles Recht sein konnte. Ein Dreivierteljahr verging, bis der Ellipsenplan mit überwältigender Mehrheit des Pfarrgemeinderates und des Kirchenvorstandes beschlossen wurde und als Entwurf der Gemeinde die Wege durch die Bistumskommissionen antreten konnte. Fest stand: der Raum wird schlichter, klarer als früher, heller und mit neuer Perspektive. Aber wer richtet ein? Die Hilfe kam aus der Kunstkommission, die uns dringend riet, möglichst frühzeitig einen Künstler oder eine Künstlerin hinzuzuziehen, um das Gesamtbild des Innenraums immer im Blick zu behalten. Ein neuer Wegabschnitt tat sich auf: Wir Laien suchten wie schon beim Thema Liturgie wieder den Kontakt zu Fachleuten – diesmal aus Kunstkreisen, fragten Museumsleiter, Galeristen, luden Künstler, die uns genannt worden waren, ein – und hörten schließlich von Pater Friedhelm Mennekes SJ aus Köln zum ersten Mal den Namen Klaus Simon. Auch ihn luden wir ein – und waren alle gleichermaßen sicher und froh, den Künstler gefunden zu haben, der unsere Gedanken und Ideen verstand. Er fing sofort an, mit uns gemeinsam zu arbeiten und Pläne zu schmieden. Unsere Entscheidung stand. Klaus Simon sagte zu. Freude und Hochstimmung bei uns, plante er doch sein Atelier auf der Baustelle aufzuschlagen und fünf Wochen unmittelbar vor der Kirche zu arbeiten – welche Chance, Kirche wachsen zu sehen. Klaus Simon entwickelte auch sogleich einen Entwurf. Er dachte unsere Gedanken weiter: Die beiden Tische (Brot und Wort) sind eigentlich eins. So schuf er einen Altar und einen Ambo, die zusammen eins ergeben. Der Ambo, das kreuzförmig herausgeschnittene Herzstück des Altars, steht diesem gegenüber, beide jeweils an einem Brennpunkt der neuen Mitte. Schon wenige Wochen später präsentierte er der Gemeinde ein Modell des neuen Kircheninnenraumes. Aber dann bremste uns auf einmal ein scheinbar unüberwindliches  Hindernis: Unser Pfarrer wurde versetzt. Er, dem die neue Kirche ein Herzensanliegen geworden war, weil sie auch seine Vorstellung, Liturgie zu feiern, widerspiegelte, musste gehen, bevor der erste Stein angerührt, die erste Mark gesammelt, der erste Vertrag unterschrieben oder auch nur ein Bauantrag gestellt worden war. Aller Protest nützte nichts. Uns blieb nur, das Tempo anzuziehen. Innerhalb der nächsten drei Monate, die bis zu seinem Weggang blieben, gelang es fast alle entscheidenden bürokratischen Hürden für eine Genehmigung des Bauantrags zu nehmen. Während das Communio-Modell alle Hürden passierte, ging die Diskussion um Details innerhalb der – jetzt kommissarisch geleiteten – Gemeinde und mit der Liturgiekommission des Bistums soweit, dass fast das ganze Modell zu kippen drohte. Der Standort des Tabernakels und der Ort der MarienVerehrung sorgten für unerwartete Probleme. Der Tabernakel sollte nach unseren Plänen in einer offen an den Kirchenraum angrenzenden, eigenen Sakramentenkapelle stehen; der Platz der Marienverehrung sollte aus dem Kircheninnenraum in den Vorraum – das Paradies, auch Standort des Tauf-/Weihwasserbeckens – verlegt werden. Gespräche und ausführliche Begründungen ebneten schließlich den weiteren Weg, den der Ende 2000 eingeführte neue Pfarrer Michael Grodecki fortan begleitete und dessen Ideen er – ohne sie selbst geplant und mitentwickelt zu haben – doch voll mittrug. Am 31.Dezember 2000 fand der Schlussgottesdienst im alten Kirchenraum statt. In der ersten Januarwoche wurde die Kirche ausgeräumt. Was uns in den folgenden Monaten begegnete und beschäftigte, sind Erlebnisse, die jedes Bautagebuch aufführt, unerwartete Beschaffenheit des Baugrunds, Verzögerung wegen Dauerregens etc. Während die Bauarbeiter gegen das Wetter kämpften, rückte für uns die Arbeit mit Klaus Simon mehr in den Mittelpunkt. Der Bildhauer arbeitet nur mit gefallenem Holz und sucht sich in der Umgebung der geplanten Standorte seiner Werke auch die Stämme, um ihnen an neuem Platz neues Leben, neue Form zu geben. Zwei Eichen lagen bald auf der Kirchenbaustelle: eine gefällt aus Gründen der Verkehrssicherheit und eine acht Jahre zuvor auf Gut Nehmten am Plöner See nach Blitzschlag gefallene. Im Juni 2001 schlug Klaus Simon sein Atelier auf. In fünf Wochen entstanden unter freiem Himmel der Altar, der Ambo, die Sedilien und die Kredenzen. Zu dieser Zeit luden wir die Gemeinde zu einem »Baustellengottesdienst« ein. Ein »Baustellenaltar« und ein Ambo aus Teilen der Eichen standen auf der neuen Querachse, die Ellipse war mit Sägespänen auf dem Boden markiert – ein erster Eindruck des späteren Innenraums wurde erlebbar.

"Zwischen Tür und Angel" - Altar und Velum des Baustellengottesdienstes, Klaus Simon
"Zwischen Tür und Angel" - Altar und Velum des Baustellengottesdienstes, Klaus Simon

Dieser Gottesdienst hat viel Versöhnungsarbeit in der Gemeinde geleistet: »Wir erkennen sie ja doch wieder« – »ist ja doch gar nicht so eng« – die Kommentare älterer, ehemals skeptischer Gemeindemitglieder taten einfach gut. Das Künstleratelier endete mit der »Bauhütte«, einer Ausstellung mit dem Titel »Zwischen Tür und Angel«. Zu sehen waren die während des Ateliers entstandenen Fotos des Fotografen Jupp Menzen aus Bonn und die Werke von Klaus Simon. Der Termin für die Weihe des neuen Altars, für den Wiedereinzug in die umgebaute Kirche stand schon lange fest: 24.November 2001 musste es sein. Fünf Feuer an fünf mit eingekerbten Kreuzen markierten Stellen des Altars brannten schwarze Narben in das Holz der Eiche – Zeichen für die fünf Wundmale Jesu Christi, als der Erzbischof von Hamburg, Dr. Ludwig Averkamp, den Altar konsekrierte. Heute ist der schlichte, helle Raum nach wie vor eine Herausforderung, sich die Form der Feier, die Bedeutung der Orte und Wege klar zu machen. Unumstritten ist die Ausstrahlung und Wirkung der neuen liturgischen Mitte.